Herr Raid, als ich Sie wegen dieses Interviews angefragt habe, war die Welt noch eine andere als jetzt. Was hat sich für Sie nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verändert?
Stefan Raid: Es ist nichts mehr so, wie es mal war. Wir hatten gehofft, dass die Menschen gerade hier in Europa die Konflikte friedlich lösen können. Das ist leider nicht so. Gerade für uns im Kinder- und Jugendsport geht es darum zu vermitteln, dass Konflikte friedlich und gemeinschaftlich gelöst werden. Es ist erschreckend, dass es an dieser Stelle nicht funktioniert hat.
Was bedeutet das für Ihren Alltag?
Wir müssen in Anbetracht dieser neuen Realitäten neu denken und Signale gegen den Krieg senden. Aber wir müssen den Kindern und Jugendlichen in den Vereinen auch dabei helfen, mit ihren Sorgen und Ängsten klarzukommen.
Welche Auswirkungen könnte dieser Krieg auf die Arbeitsinhalte der dsj haben?
Das lässt sich noch nicht im Detail sagen. Über unsere Verbindungen im internationalen Jugendaustausch prüfen wir gerade, wie wir in Richtung Ukraine helfen und unterstützen können. Aber wir haben auch deutsch-russische Verbindungen und müssen sehen, welche Auswirkungen der Konflikt auf sie hat und wie wir hier den olympischen Ansatz der Völkerverständigung fortsetzen können.
Auch wenn Sie nach so kurzer Zeit noch nichts Konkretes sagen können: Veränderungen in Ihrer Arbeit wird es aber geben?
Wir müssen genau überlegen, welche Konsequenzen die richtigen sind. Nachdem die Kinder und Jugendlichen in der Pandemie schon zwei Jahre die Leidtragenden waren, dürfen sie nicht jetzt schon wieder die Leidtragenden werden. Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen gerade angesichts der angsterfüllenden Bilder aus der Ukraine nicht wieder vergessen werden. Gerade jetzt braucht es mehr denn je Gemeinschaft und Orte, an denen Kinder die Ängste und Sorgen vergessen können. Ich glaube, dass wir irgendwann auch wieder in Richtung Russland blicken und überlegen müssen, was wir für dortige Kinder tun können. Ich halte es für sehr wichtig, dass zwischen den Jugendlichen wieder Verbindungen entstehen können. Es ist nicht der Krieg des russischen Volkes, sondern der Krieg des dortigen Herrschers.
Darf ich die Frage, wie die Jugend heutzutage zu Olympischen Spielen steht angesichts des Krieges überhaupt noch stellen? Oder muss ich es vielleicht sogar, weil der olympische Gedanke genau das Gegenteil von dem ist, was in Osteuropa gerade geschieht?
Ich habe mit Interesse gelesen, wie sich die fünf jungen Sportlerinnen und Sportler kürzlich in Ihrer Zeitung zu dem Thema geäußert haben. Sie haben als aktive Sportler klar gesagt, dass Olympia für sie immer noch das große Ziel ist. Gleichzeitig schauen sie aber auch sehr kritisch darauf, wie sich die Olympischen Spiele verändert haben und ob sie noch den Werten entsprechen, die sie eigentlich haben sollten. Über das, was bei den Spielen in Peking und davor in Sotschi kritisiert worden ist, müssen wir in der Arbeit mit unseren Jugendlichen im Dialog bleiben.
Sind Olympische Spiele denn ein großes Thema in der dsj?
Das Ziel der Olympischen Spiele bildet immer noch eine Basis dafür, dass Kinder und Jugendliche in den Leistungssport gehen und vielleicht irgendwann selbst bei Olympia ankommen. Voraussetzung dafür ist das Engagement auf der Breitensportebene. Wenn wir den Spaß an Sport und Bewegung an der Basis vergrößern, führt das automatisch zu mehr Talenten im Leistungssport. Aber vor allem die olympischen Werte und die Wertevermittlung an sich sind ein großes Thema in der dsj.
Welchen Wert haben Olympische Spiele, die unter einer zunehmenden Kommerzialisierung und Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen wie jetzt in Peking leiden?
Die Antwort auf diese Frage hat zwei Seiten. Die Sportlerinnen und Sportler arbeiten vier Jahre auf Olympia hin, deshalb möchten sie sich erst einmal auf den sportlichen Vergleich konzentrieren. Darauf sollte der Fokus liegen. Natürlich ist es aber wichtig, auch für uns als dsj, dass die genannten Themen auch diskutiert werden. So ist uns bei unseren internationalen Beziehungen das kulturübergreifende Lernen und Verstehen besonders wichtig. Beispielsweise das Thema Menschenrechtsverletzungen greifen wir in den Olympischen Jugendlagern oder in unseren Academy Camps immer auf.
Wie schwer fällt es Ihnen in den Jugendlagern, einerseits den völkerverbindenden guten Geist der Sportbewegung zu betonen und andererseits zu erleben, dass Politiker und hohe Sportfunktionäre die Olympischen Spiele für ganz andere Zwecke missbrauchen?
Es ist wichtig, dass wir mit den Teilnehmenden darüber diskutieren. Es ist ein Spiegel der Gesellschaft, dass diejenigen, die eine große Plattform haben, sie für ihre Dinge nutzen. Leider ist es für die dsj schwer, andere Maßnahmen zu ergreifen als nur über diese Themen zu reden, sich auszutauschen, Meinungen zu entwickeln und kritisch zu diskutieren. Wir bekommen von den Jugendlichen aber die Rückmeldung, dass ihre Begeisterung für Olympia trotz der inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen Themen ungebrochen ist.
Glauben Sie, dass der Sport nach Meinung der Jugendlichen ein Glaubwürdigkeitsproblem hat?
Die Jugendlichen hinterfragen die Probleme und fordern den kritischen Dialog von uns ein. Und sie fordern, dass wir in Richtung Internationales Olympisches Komitee die Wichtigkeit dieser Themen auch betonen. Solange wir das tun, haben zumindest wir kein Glaubwürdigkeitsproblem bei den Jugendlichen. Es könnte jedoch sein, dass die Jugendlichen in Bezug auf internationale Organisationen eine andere Auffassung haben.
Wie verhält sich die dsj bei der Frage, ob der Sport politisch neutral sein sollte? Kann er das überhaupt sein?
Für viele Sportvereine ist es schwer, da den richtigen Weg zu finden. Allerdings ist für uns klar: Wir müssen parteipolitisch neutral sein, so ist es im Gemeinnützigkeitsrecht verankert. Aber gesellschaftspolitisch ist es durchaus erlaubt, sich zu positionieren. Und das machen wir auch. Der Sport als wichtiger Teil der Gesellschaft, der im Fokus der Öffentlichkeit steht, wird sich immer mit gesellschaftspolitischen Themen befassen und dazu äußern müssen. Der Sport sollte hier auch seiner gesellschaftspolitischen Aufgabe gerecht werden. Wo es gegen die Werte des Sports geht, hat er insbesondere die Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen. Insofern ist der Sport nicht neutral.
Werden Olympische Spiele eines Tages wieder ein unbeschwertes Fest sein können oder ist diese Vorstellung zu romantisch?
Es sollte unser Ziel sein, und es ist sicherlich auch der Wunsch der Sportlerinnen und Sportler. Ich befürchte aber, dass die Olympischen Spiele im Weltgeschehen auch zukünftig eine so große Bedeutung haben, dass sie niemals unbeschwert sein können, weil es immer von außen Themenlagen geben wird – und auch gab –, die das beeinflussen. Ich hoffe, dass sich die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel, die die junge Generation so sehr bewegen, bei den Spielen in Paris 2024, Cortina d‘Ampezzo 2026 und Los Angeles 2028 niederschlagen. Olympische und Paralympische Spiele sind eine große Chance für die junge Generation, sich nationenübergreifend kennenzulernen und zu verständigen. Bei den Youth Olympics, den Jugendspielen, ist dieser Geist noch viel stärker vorhanden.
Das Gespräch führte Jörg Niemeyer. Das Interview ist am 13. März 2022 im Weser-Kurier erschienen.