Judo ist ein Kindersport, ein großer Teil der Mitglieder in den Vereinen ist im Grundschulalter, mehr als die Hälfte ist unter 14 Jahre alt. Wichtig scheint es da, das 2021 in Kraft getretene Ganztagsförderungsgesetz in den Blick zu nehmen. Es sieht ab dem Jahr 2026 die stufenweise Einführung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter vor. Damit wird die Zahl der ganztägig betreuten Kinder in Deutschland weiter zunehmen. Der Sport sollte sich darauf einstellen. Julian Lagemann, Vorstandsmitglied der Deutschen Sportjugend (dsj), hat sich eingehend mit dem Thema beschäftigt und erläutert im Gespräch mit dem Judo Magazin Herausforderungen und Chancen für die Vereine.
Judo Magazin: Wie stehen Sie dem Ganztagsförderungsgesetz und der damit verbundenen stufenweisen Einführung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter grundsätzlich gegenüber?
Grundsätzlich begrüße ich das, es ist ein Meilenstein, ganztägige Bildung vollumfänglich zu denken. Allerdings wird es ein spannender Weg der Umsetzung, darauf müssen wir uns im Sport in den nächsten Jahren einstellen.
Sie sagen, ein spannender Weg steht bevor, was bedeutet das, wird es schwierig?
Es kommt darauf an, wie viel der Sport bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs mitspielen darf. Das ist der erste Schritt. Ich glaube nicht, dass es für uns ein supereinfacher Weg wird. Es gibt allerdings viele tolle Konzepte, die bereits umgesetzt werden. Ganztag und ganztägige Bildung sind ja nichts Neues ab 2026, sondern seit vielen Jahren funktioniert das auch mit gelungenen Konzepten aus dem Sport. Als Sportverein und als Sportverband muss man sich darauf einlassen. Tut man das strategisch und gezielt, kann das ein wunderbarer Weg sein, mehr Bewegung, Spiel und Sport für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen.
Was bedeutet die Ganztagsbetreuung in der Grundschule für einen Sportverein, wo liegen die Herausforderungen, wo die Chancen?
Die Chancen liegen darin, dass jede Grundschule Ganztagsangebote füllen möchte. Eine Möglichkeit dafür sind natürlich Bewegung, Spiel und Sport. Das kann die ganz einfach angeleitete Bewegungsstunde sein. Das kann aber eben auch fachspezifischer Sport sein, Judo zum Beispiel. Zumal die Gegebenheiten für Judo, sofern die Schule oder der Ganztagsträger einmal die Matten angeschafft hat, ja durchaus einfacher sein können als für ein Sportspiel, das ein großes Spielfeld benötigt. An dieser Stelle besteht die Möglichkeit für Sportvereine, in gute Kooperationen mit Ganztagsschulen zu gehen. Zudem hege ich die Hoffnung, dass der Sportverein insgesamt in der Kommune als Bildungspartner wahrgenommen wird. Denn das, was dort tagtäglich funktioniert und gelebt wird an Bewegung, Spiel und Sport für Kinder, das ist hervorragende Bildung, und die passiert auch schon jetzt. Das zu vernetzen mit schulischen und kommunalen Angeboten wird spannend, aber eben auch herausfordernd, weil wir an vielen Stellen sehen: Engagierte Menschen brechen dem Sport weg. Zu den Zeiten des Ganztags sind viele unterwegs, müssen arbeiten. Das wird ein Knackpunkt. Aber der Sport ist auch an dieser Stelle sicher wandelbar.
Lassen Sie uns zwei Aspekte noch einmal herausgreifen. Der erste: Der Sport wird als Bildungspartner unterbewertet?
Aus meiner Sicht schon. Der Sport ist der größte außerschulische Bildungspartner. Vereinzelt existieren Leuchttürme, Orte, wo der Sport immer mit am Tisch sitzt und sehr gut eingebunden wird. Den Weg gilt es jetzt weiter zu beschreiten und überall laut zu sein und zu sagen: „Moment, Sport ist Bildung, und Bildung braucht auch Bewegung.“ Da habe ich die Hoffnung, dass immer, wenn wir über Bildung sprechen, nicht nur an institutionalisierte Bildung in der Schule gedacht wird, sondern eben auch klar ist, dass im Sportverein genauso Bildung stattfindet. Beispielsweise durch die Wertebildung im Judo, das ist an der Stelle ja ein hervorragendes Beispiel. Es werden aber auch viele non-formale Dinge tagtäglich im Sport vermittelt, wie Regeln einhalten oder das Wertschätzen von Engagement. Auch das ist eine Form von Bildung.
Der zweite Aspekt betrifft die Menschen, die Vereinsangebote im Ganztag realisieren. Im Judo, so stellt der DJB fest, hat in der Nach-Covid-Zeit das Engagement als Trainerin und Trainer nachgelassen. Ist das generell im Sport zu erkennen?
Wir sehen, dass das nicht sportartspezifisch ist. Zahlen aus verschiedenen Landessportbünden zeigen, dass die Kids zurückkommen in die Vereine und es Bedarf an Bewegung, Spiel und Sport gibt. Gleichzeitig gibt es die Notwendigkeit, Ehrenamtliche und Trainerinnen und Trainer vor Ort zu haben, die die Angebote umsetzen. Das ist in der Tat ein Knackpunkt im Ganztag für den Sport. Ein Vorschlag im Positionspapier von DOSB und dsj beispielsweise ist, lokale Netzwerkmanager*innen einzusetzen, welche die Verbindung zwischen Schule und Sportverein knüpfen. Denn sicherlich können Großsportvereine auch Träger im Ganztag werden, aber der kleinere Sportverein oder der reine Judoverein, der weniger Mitglieder hat und auch weniger Trainerinnen und Trainer, der kann sicherlich nicht ein komplettes Ganztagsangebot alleine wuppen, zumindest nicht in den ersten Jahren. Da gilt es genau zu schauen, wann deren Angebote den Ganztag ergänzen können. Auch die Freiwilligendienste im Sport können eine wichtige Rolle spielen, um Angebote umzusetzen. Das funktioniert vielerorts jetzt schon gut. Entsprechend wünsche ich mir einen Aufwuchs der Stellen und natürlich die Gegenfinanzierung durch die Länder. Denn entscheidend im Ganztag ist die Kommune. Da können wir uns im Sport noch so sehr verbiegen auf Bundesebene und große Rahmenrichtlinien formulieren, am Ende kommt es auf die Kommune und die einzelne Schule an. Da entscheidet sich die Struktur des Ganztags. Aber damit die Rahmenbedingungen stimmen und überall der Sport mitgedacht wird, machen wir bestmöglich auf seine Leistungen aufmerksam.
Was sind die zentralen Forderungen von dsj und DOSB?
Erst einmal geht es um die tägliche Bewegungszeit im Ganztag. Es muss klar sein, dass Kinder im Ganztag ein Recht auf Spiel und Freizeit haben und der allgemeine Bewegungsmangel hier mit in den Blick genommen wird und ihm entgegengewirkt wird. Das andere ist: Überall, wo wir Bewegung brauchen, benötigen wir auch die Räume dazu. Ohne die entsprechenden Räumlichkeiten wird es umso schwieriger für Sportvereine, gute Bildungsangebote zu machen. Wir appellieren daran, den Sport bei allem mitzudenken. Wir sind ein wichtiger Bildungsakteur, der das Ganztagsangebot, die ganztägige Bildung bewegt komplettiert. Dazu ist eine gute Qualifikation vonnöten, wie sie der gemeinnützige, organisierte Sport mitbringt. Und letztendlich geht es für uns auch im Sinne der Partizipation darum, die Kinder selbst mitentscheiden lassen und sie zu fragen: Was wollt ihr denn?
Was bedeutet der Ganztagsanspruch für die Kinder?
Für die Kinder bedeutet es, dass sie, wenn sie Glück haben, ein sehr vielfältiges, gut durchdachtes ganzheitliches Angebot von ganztägiger Bildung haben. Nach der Schule in den bekannten 45-Minuten-Einheiten am Vormittag wird nachmittags ein Träger zur Betreuung eingesetzt. Dabei gilt es, über den gesamten Tag verteilt gesamtheitlich zu denken. Das kann auch bedeuten, dass Bewegung, Spiel und Sport sich vielleicht durch den ganzen Tag ziehen. Das ist das eine. Das andere ist Chancengleichheit für alle Kinder. Da bin ich gespannt, ob das gut funktioniert. Der Sport ist auf jeden Fall so niedrigschwellig, dass er dieses Ziel schneller erreichen kann als vielleicht andere Angebote.
Wie sähe das System der Kooperation von Sportverein und Ganztag in Ihrer Idealvorstellung aus?
Als ein gemeinsam gedachtes Konzept von kommunaler Bewegungs- und Bildungslandschaft, in dem der Sportverein seine Kernkompetenz, nämlich Bewegung, Spiel und Sport, für Kinder einbringt. Wenn Verantwortliche erkennen: „Hey, hier habe ich einen Sportverein, der macht gute Judoangebote, und hier habe ich eine Grundschule und die nutzen vielleicht sogar dieselbe Halle.“ Und dann hat der Verein einen Freiwilligendienstleistenden oder Trainerinnen und Trainer, die entsprechend Zeit haben, und so werden Angebote innerhalb der ganztägigen Bildung möglich gemacht. Es wäre meine Idealvorstellung, dass Ganztag und Sport zusammengedacht wird und ein Automatismus entsteht. Spannend sind in dem Zusammenhang übrigens für viele Sportvereine die Schließzeiten in den Ferien. Ganztagsschulen dürfen dann maximal vier Wochen schließen. In den Ferien finden viele Freizeitangebote des Sportvereins statt, die den Ganztag füllen können.
Das hört sich optimistisch an.
Ja, ein bisschen träumerisch aber auch. Man muss ehrlich sagen: Das wird in einigen Kommunen gut klappen; in anderen wird es ein hartes Stück Arbeit sein. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt flächendeckend loslegen, gute Konzepte zusammentragen, so dass überall klar wird: Wenn es um Ganztag geht, wenn es um ganztägige Bildung geht, dann wird Sport mitgedacht. Natürlich darf am Ende jeder Sportverein für sich entscheiden, ob er dazu in der Lage ist.
Haben Sie einen besonderen Tipp für die Judovereine? Grundschulkinder gehören hier zur Hauptklientel.
In meiner Wahrnehmung ist Judo in vielen Bereichen der Jugendarbeit vorne mit dabei. Mein Tipp wäre: Seht zu, dass ihr Netzwerke aufbaut, dass ihr eine Einsatzstelle für Freiwilligendienstleistende werdet und so die Möglichkeit bekommt, vor Ort mitzuspielen. Und man braucht keine Angst zu haben als Sportverein. Die Attraktivität ist immer noch hoch. Um Ehrenamtliche zu bekommen, ist mein Tipp, breit zu denken und auszubilden, auszubilden, auszubilden. Überträgt man jungen Menschen Verantwortung, entsteht eine Bindung. So bin auch ich in den Sport gerutscht, als ich gefragt wurde: „Willst du nicht den Übungsleiter machen?“ Eine relativ klassische Engagementbiografie. Jede Ausbildung ist ein Investment des Vereins, das sich am Ende auch auszahlt.
Quelle: Judo Magazin, Ausgabe 7/23, Interview: Oliver Kauer-Berk.