Und täglich grüßt das Murmeltier. Deutschland bekleckert sich 22 Jahre nach dem ersten PISA-Schock nicht mit Ruhm. Die Leitmedien tönen laut und urteilen schnell, wie in der Frankfurter Rundschau: „Deutsche Schülerinnen und Schüler liefern die schwächsten Ergebnisse in der Geschichte der Pisa-Studie. Dahinter steckt wohl auch Corona.“ Ob Mathematik, Naturwissenschaften oder Lesen – in allen drei Kompetenzbereichen fallen die deutschen Neuntklässler*innen auf oder unter die niedrigsten Werte zurück, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden. Die PISA-Ergebnisse attestieren seit nunmehr etwas über 20 Jahren ein Versagen der Bildungspolitik. Insbesondere der seit der ersten PISA-Studie nach wie vor ausgeprägte Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Eltern und den Leistungen der Schülerinnen und Schüler gibt Anlass zur Besorgnis. In Deutschland gelingt es den Verantwortlichen offensichtlich weniger als in anderen Ländern Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Sicherlich müssen die Defizite der Corona-Pandemie aufgefangen werden – dies gilt jedoch für alle anderen Länder auch und kann nicht die alleinige und zentrale Ursache sein.
Was Deutschland benötigt, ist ein radikales Umdenken in Unterricht und Schule mit ihren strukturellen Rahmenbedingungen. In der Schule wird in erster Linie Wissen vermittelt, und das, wie die Ergebnisse zeigen, unzureichend. Wissen ist eine wichtige Voraussetzung für Bildung, aber Bildung ist weit mehr als Wissen und das Lösen von mehr oder weniger komplexen Aufgaben in Mathe oder Deutsch. Reformpädagogen propagieren seit mehr als hundert Jahren eine andere, tiefergehende und nachhaltigere Art des Lernens mit Kopf, Herz und Hand. Die Forderung, Schule und Bildung neu zu denken wird seitdem immer wieder bekräftigt, eine tatsächliche Bildungsreform bleibt jedoch aus. In den 1990er Jahren wurde u. a. von der Bildungskommission NRW eine stärkere Förderung von Schlüsselqualifikationen gefordert. Damit sind Kompetenzen gemeint, die es ermöglichen sowohl individuellen Entwicklungen als auch gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden. In der heutigen Zeit stellen u. a. Demokratie- und Medienbildung, Interkulturelle Kompetenz sowie Gesundheitskompetenz grundlegende Schlüsselqualifikationen dar, zu deren Erwerb übergreifende Fähigkeiten nötig sind, die sowohl aus dem kognitiven als auch aus dem sozialen, emotionalen und persönlichen Bereich stammen – der Bereich von körperlicher und motorischer Bildung wird zunehmend mit kompensatorischen Begründungen adressiert – das wird dem Lerngegenstand Bewegung, Spiel und Sport bei weitem nicht gerecht. Studien zu einem informellen Kompetenzerwerb in Sportvereinen oder zu informellen Tätigkeiten auf dem Schulhof belegen dies. Provokativ formuliert scheinen die Heranwachsenden ihre Bildung in die eigene Hand zu nehmen. Streng genommen impliziert dies auch ein zeitgemäßes Bildungsverständnis, denn bilden kann sich der Mensch nur selbst und die Kommune, die Schule, die Lehrkräfte und weitere Bildungsakteure können nur die Rahmenbedingungen setzen und entsprechende Impulse liefern.
Was macht die Bildungspolitik? Sie rückt Standards und Kompetenzorientierung in den Kernfächern in den Fokus und investiert große Summen in Evaluationen, die seit Jahrzehnten immer wieder dasselbe attestieren. Wie wäre es stattdessen mehr Geld und Zeit in eine echte Bildungsreform zu stecken, indem z. B. endlich ein „Doppel-Wumms“ nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Bildung erfolgt?
Beispielsweise fordern die Bildungsforscher Neuber und Zierer mehr in die Qualifikation von Lehrkräften zu investieren und diesen sowie den Schüler*innen mehr Zeit beim Lernen und für Ihre Bildung zu geben. Aus ihrer Sicht brauchen Heranwachsende nicht mehr von dem, was sie sowieso schon seit Jahrzehnten bändigt, sondern Leiblichkeit und Bewegung als Grundprinzipien von Bildung. Erkenntnisse für eine leiborientierte Bildung liegen längst vor. Dies kann z. B. im Rahmen einer Bewegten Schule erfolgen, in der kognitive, emotionale, soziale und persönliche Kompetenzen, u. a. durch Bewegten Unterricht in diversen Fächern, Sportunterricht, Sportangebote im Ganztag, informelle Tätigkeiten in entwicklungsorientierten Schulhöfen angesprochen werden.
Schulen und Lehrkräfte dürfen mit den massiven gesellschaftlichen Anforderungen und Umbrüchen nicht allein gelassen werden – zumal bis mindestens 2035 ein eklatanter Lehrkräftemangel bei gleichzeitig geringer Wertschätzung und Nachfrage für das Lehramtsstudium mit Blick auf den Einsatzort Schule zu konstatieren ist.
Es bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bildungspolitik, Bildungsforschung, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft, fordern die PISA-Forscher. Dazu gehören auch die Sportverbände auf bildungspolitischen Bühnen und die Sportvereine vor Ort – wir haben kein Erkenntnisproblem, die Konzepte für mehr Bewegung in Unterricht und Schule sind bekannt. In der (ganztägigen) Schule entstehen neue Arbeitsfelder, das ist eine Chance für den Sport.
Autor*innen: Dr. Ahmet Derecik und Prof. Dr. Jessica Süßenbach, Sprecher*innen des dsj-Forschungsverbundes