17. Kinder- und Jugendbericht zur Lage junger Menschen in Deutschland

Quelle: Unsplash/Chang Duong

Vorschlag neuer Leitlinien und Appell zur Selbstreflexion

 

Pandemiegeschehen, Flucht, Situation ohne Selbstverständlichkeit von Frieden, komplexe Debatten um Klimagerechtigkeit und Digitalität, Digitalisierung – das alles im Kontext von Demokratiefeindlichkeit – in diese gesellschaftlich herausfordernden Rahmenbedingungen ordnet der im Herbst 2024 veröffentlichte 17. Kinder- und Jugendbericht das Jungsein in Deutschland ein. Derzeit leben 22 Millionen junge Menschen – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Sie wachsen unter verschiedenen Bedingungen auf. Und der Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung soll (alle vier Jahre) Befunde zur Lage der jungen Generation liefern. Anspruch des Berichtes ist es damit, einen Beitrag zum Diskurs über die fachliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und für eine zeitgemäße sowie kinder- und jugendgerechte Politik zu liefern.

 

Teil 1 von 2:

Nachschlagewerk thematisiert Zuversicht als Grundhaltung, Selbstreflexion als notwendigen Anspruch des Arbeitsfeldes und gerechte Ressourcenverteilung

Mit seinen rund 500 Seiten und einigen Seiten vorangestellter Stellungnahme der Bundesregierung ist der Bericht v.a. Nachschlagewerk über die Aufgaben und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Berichtskommission hat umfassend Daten, Berichte und Einordnungen zu den aktuellen Rahmenbedingungen des Aufwachsens, zu Adressat*innen, Strukturen, Angeboten und Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe zusammengetragen und reflektiert. Deutlich werden die besonderen und ungelösten Herausforderungen einer kinder- und jugendgerechten Politik schon mit der Aussage in der Stellungnahme der Bundesregierung, die der Sachverständigenkommission darin zustimmt, dass es unserer Gesellschaft „nicht ausreichend gelingt, (…) Ressourcen so zugänglich zu machen und zu verteilen, dass alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gleichermaßen förderliche und sozial gerechte Bedingungen des Aufwachsens erfahren“ (Kap. 1.3). Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) stellt in Bewertung des Berichtes in einer Pressemitteilung (18. November 2024) für die Beschreibung der Lebenslagen von jungen Menschen im Besonderen folgendes hervor: „Junge Menschen haben Zuversicht, aber Zuversicht ist nicht voraussetzungslos“ sowie die Grundsituation eines „Jungsein in einer Demokratie unter Druck“.

Der 17. Kinder- und Jugendbericht – und auch schon Vorgängerberichte – appelliert außerdem an eine Selbstreflexion des Arbeitsfeldes und der dort tätigen Akteure: „Die Kinder- und Jugendhilfe steht in der Verantwortung, sich selbstkritisch immer wieder daraufhin zu hinterfragen, ob und wie sie ihren eigenen Anspruch, einen wesentlichen Beitrag zur Ermöglichung eines gerechten Aufwachsens zu leisten, tatsächlich auch umsetzt oder ob ihre Angebotsstrukturen zumindest teilweise Aspekte sozialer Ungleichheit reproduzieren.“ (S.293).

 

Die Deutsche Sportjugend (dsj) greift hier nur eigene Aspekte für eine erste Kommentierung heraus.

 

Sportvereine erreichen die Hälfte aller – ist das genug? – Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten und ihr Zugang zu Sportvereinen

Sportvereine erreichen nicht alle Kinder und Jugendliche, 22 Millionen sind es aktuell unter 27 Jahren in Deutschland. 10 Millionen Mitgliedschaften gibt es in Sportvereinen. Entsprechend wird mit der Stellungnahme der Bundesregierung kritisch darauf geblickt, dass auch in den Vereinen Kinder und Jugendliche mit Zugangsschwierigkeiten und bildungsfernen Schichten unterrepräsentiert sind. Mit den BMFSFJ-geförderten MOVE Forschungsprojekten der dsj ist dies wieder festgehalten worden. Selbstkritischer Anspruch der dsj muss es sein, die Rahmenbedingungen und Haltungen im eigenen System so weiterzuentwickeln, dass sich die Situation zum Wohle aller Kinder und Jugendlichen stetig verbessert. Auch stellen die MOVE Forschungsprojekte heraus, dass sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen, die in Haushalten mit staatlichen Unterstützungsleistungen leben, geringer ist als in Haushalten ohne Unterstützungsleistungen.

Was sowohl der Kinder- und Jugendbericht als auch die Stellungnahme der Bundesregierung allerdings nicht darstellt, ist, dass benachteiligte und bildungsferne Jugendliche trotz aller Optimierungspotentiale deutlich häufiger im Sportverein aktiv sind als im Durchschnitt der anderen Verbände oder Vereinen.

Für die dsj bleibt aber klar: es braucht – nach innen – mehr Sensibilisierung im organisierten Sport im Hinblick auf seine Potentiale für die Förderung von Teilhabe und Bildung begleitet mit dem wiederholten Appell an mehr politisches Engagement und Unterstützung dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen die Potenziale von Bewegung und Sport erfahren können.

 

Aber: dsj fordert Korrektur in der Stellungnahme der Bundesregierung bezüglich Kinder- und Jugendarbeit im Sport und der Jugendverbände im Sport

Die Kinder- und Jugendarbeit mit ihren Prinzipien der Freiwilligkeit, Partizipation, Selbstorganisation und Sozialräumlichkeit wird in dem Bericht ausführlich beleuchtet. Zu Recht wird die Bedeutung der besonderen Bildungsprozesse, die in der Kinder- und Jugendarbeit stattfinden, herausgehoben. Wie die Bundesregierung an einer Stelle aber richtig darstellt, leistet „Auch die Kinder- und Jugendarbeit im Sport […] einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe junger Menschen. Die Beteiligung an gemeinsamen sportlichen Aktivitäten stärkt das soziale Verhalten und bietet Möglichkeiten, Werte wie Vielfalt, Respekt und Toleranz zu vermitteln. Daher fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend neben einzelnen Projekten die entsprechenden Infrastrukturen, insbesondere die Deutsche Sportjugend.“ (S. 17). Diese Förderung entspricht allerdings aktuell nicht einmal 0,50 € pro Mitgliedschaft von Kindern und Jugendlichen im Sport. Hier ist ein Aufwuchs der grundlegenden Förderung über den Kinder- und Jugendplan ebenso notwendig wie eine Überführung von erfolgreichen Projekten in eine dynamisierte Rahmenvereinbarung.

Wie auch in allen Vorgängerberichten fehlt allerdings die angemessene Berücksichtigung des Handlungsfeldes der Kinder- und Jugendarbeit im Sport. Die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht konstatiert, dass in den Jugendverbänden und ihren Mitgliedsorganisationen rund sechs Millionen junge Menschen organisiert seien. Dabei zählen allein die Sportvereine wie oben bereits genannt über zehn Millionen Mitgliedschaften im Kinder- und Jugendbereich – im Bericht wird diese Arbeit der Vereine in der breiten Fläche aber kaum sichtbar.

Es erstaunt, dass Bericht und Stellungnahme insgesamt eine Defiziterzählung zum Sport zu transportieren scheinen. Die dsj fordert eine Korrektur in der Stellungnahme der Bundesregierung, die bei der Bewertung der Leistungen der Jugendverbände in Deutschland die Jugendverbände im Sport und die Deutsche Sportjugend ausspart.

 

Bedarfe im Ganztagsausbau

In ihrer Stellungnahme hält die Bundesregierung richtigerweise fest, dass Ganztag mehr Zeit für eine individuelle Förderung von Kindern bietet und wie wichtig dabei eine konsequent kindorientierte ganztägige Bildung und Betreuung ist, um unter anderem soziales Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu fördern (S.14). Die dsj betont allerdings, dass individuelle Förderung nur dann möglich ist, wenn hierfür Rahmenbedingungen gesetzt werden, die momentan nicht bestehen. Es braucht mehr finanzielle und personelle Ressourcen und damit Investitionen in die Zukunft von jungen Menschen. Außerdem beinhaltet eine kinderrechteorientierte Bildung zwingend auch eine Bewegungsorientierung, die dem Recht auf Spiel und dem Bewegungsdrang von Kindern gerecht wird.

„Ein integrierte Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung kann auch vor diesem Hintergrund ein sinnvolles Steuerungsinstrument sein, um ein bedarfsgerechtes Angebot zu schaffen und weiterzuentwickeln“, so die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme (S.15). Die Herausforderungen, die der Föderalismus der Schulentwicklungsplanung vorgibt, sind bekannt. Bewegung, Spiel und Sportorientierung als Qualitätsmerkmale müssen aber mehr als bisher in einer integrierten Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung berücksichtigt zu werden, zumal der organisierte Sport derzeit der häufigste Kooperationspartner des Ganztags ist (SteG, 2018). Außerdem können an dieser Stelle Best-/Good-Practice Beispiele aus dem Sport angebracht werden. Es gibt eine Vielzahl an Beispielen (z.B. die Einreichungen zum Deutschen Schulsportpreis und zuletzt die interne dsj-Ganztagsbefragung).

 

Freiwilligendienste und Debatte um den Pflichtdienst

Auch über die Freiwilligendienste wird an mehreren Stellen berichtet und ihr Wert hervorgehoben. So bescheinigen die  Sachverständigen der Berichtskommission den Freiwilligendiensten FSJ, FÖJ und BFD eine „ungebrochen hohe Beliebtheit“ und eine „dauerhaft hohe Attraktivität“ (S. 20) mit dem Hinweis, dass Stellenbesetzungen „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ (ebd.) möglich sind. Defacto führte dieser Haushaltsrahmen in 2024 zu einer Fördermittelkürzung und auch für 2025 stehen Kürzungen im Haushaltsentwurf. Dabei konstatiert auch der Bericht: „Es braucht eine Weiterentwicklung der Strukturen und keine Kürzungen der Förderung“ (S. 65). Der Bericht hält diesbezüglich eindrucksvoll fest: „von einer Verbesserung [der Finanzierungssituation], wie im Koalitionsvertrag versprochen, kann allerdings nicht die Rede sein“. Ein nachfragegerechter Ausbau ist in der Legislatur nicht erfolgt, stattdessen werden über Jahre aufgebaute und etablierte Trägerstrukturen durch Kürzungen in ihrer Existenz bedroht! Dies trifft die Freiwilligendienste im Sport im besonderen Maße.

Trotz der sehr gekürzten Darstellungen im Bericht sind die Freiwilligendienste in allen Bereichen des sozialen Lebens „nicht mehr weg zu denken“ (S. 344). Die Bundesregierung hält die Freiwilligendienste für „überaus wertvoll“ (S. 20) – für die Freiwilligen, die Einsatzstellen und die Gesellschaft – und betont insbesondere den Effekt auf die Stärkung der Demokratie. Entsprechend bekennt sich die Bundesregierung auch deutlich zur  Freiwilligkeit, zur  Arbeitsmarktneutralität und zum Verzweckungsverbot. Der Bericht erteilt einer Dienstpflicht, wie unter anderem der Bundespräsident sie vorschlägt, mehrfach eine klare Absage und bezeichnet die Debatte um einen allgemeinen Pflichtdienst als befremdlich: „Der Einführung eines Pflichtdienstes (und der Wehrpflicht) stehen rechtliche, inhaltliche und finanzielle Gründe entgegen“. Vielmehr braucht es eine „attraktive Kultur der Freiwilligkeit“. (S. 345).

Ein expliziter Verweis auf das zivilgesellschaftliche Konzept des Rechtsanspruchs auf Förderung eines Freiwilligendienstes, das von der dsj unterstützt wird, fehlt zwar, die Bundesregierung setzt sich jedoch weiterhin das klare Ziel, freiwilliges Engagement „unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungshintergrund oder sozio-ökonomischem Status möglich“ (S. 21) zu machen. Die zur Realisierung dieses Ziels notwendige Einführung eines staatlich finanzierten Freiwilligengeld auf BAföG-Niveau ist ebenso eine Kernforderung unserer gemeinsamen Vision Freiwilligendienste 2030 wie die auffordernde Einladung und Beratung an alle Schulabgänger*innen.

Abschließend zieht der Bericht zu den Freiwilligendiensten (und einem Pflichtdienst) folgendes Fazit:

„Statt eines Pflichtjahres oder gar finanzieller Kürzungen der Förderung bedarf es einer Weiterentwicklung in Struktur und Organisation, um attraktiv zu sein und zu bleiben. So gilt es, den Stellenwert der Freiwilligen zu begreifen und wertzuschätzen sowie Schwächen im System der Freiwilligendienste zu beseitigen. Die Freiwilligendienste müssen vor allem aus Sicht der interessierten jungen Menschen gedacht werden, Zugänge müssen erleichtert und die im Freiwilligendienst erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten für die jungen Menschen besser „verwertbar“ gemacht werden. Ein wünschenswertes Ergebnis könnte ein Anspruch auf einen (attraktiven) Freiwilligendienst sein, und damit sollte den Pflichtdienstdebatten eine klare Absage erteilt werden“ (S. 347).

 

In einem zweiten Teil der dsj-Kommentierung nächste Woche:

„Guter Vorschlag der Berichtskommission: neue Leitlinien für eine verlässliche und vertrauenswürdige Kinder- und Jugendhilfe”


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